Digitalisierung erfasst Industrieversicherer

 Digitalisierung erfasst Industrieversicherer

Die Digitalisierung wird auch das Geschäft der Industrieversicherer mit Mittel- und Großunternehmen radikal verändern. Bild: IHK München

Der zügige Wandel vom Produktgeber zum Risikopartner verspricht für Industrieversicherer großes Potenzial. Um schnell genug vollumfängliche Kundenlösungen anbieten zu können, müssen Versicherer offen gegenüber digitalen Innovationen, Ideen und Partnern sein. Das zeigt eine gemeinsame Untersuchung von Marsh, einem Makler für Industrieversicherungen und der Strategieberatung Oliver Wyman. Für 90 Prozent der befragten Versicherer hat der Ausbau der digitalen Fähigkeiten in den nächsten Jahren höchste Priorität.

Die Digitalisierung wird auch das Geschäft der Industrieversicherer mit Mittel- und Großunternehmen radikal verändern. Zum einen hat die Industrie 4.0 einen anderen Absicherungsbedarf als ihre Vorstufen. Zum anderen stellen die Kunden und Vertriebspartner heute höhere Anforderungen an die digitale Zusammenarbeit mit den Versicherern. Während zahlreiche Studien den digitalen Wandel des Geschäfts mit kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) sowie mit Kleinstgewerbe beschreiben, stand das Industriesegment ab einem Umsatzvolumen von 25 Millionen Euro aufwärts bisher nicht im Fokus.

Im Rahmen der Analyse „State of Play – Digitalisierung in der deutschen Industrieversicherung“ haben die Autoren 19 bedeutende Industrieversicherer in Deutschland zum Stand ihrer Digitalisierungsinitiativen befragt, Unterschiede zwischen den Akteuren herausgearbeitet und darauf aufbauend Zukunftsszenarien entworfen. 95 Prozent der Umfrageteilnehmer halten die Digitalisierung im Geschäft mit mittleren und großen Industrieunternehmen explizit für wichtig. Für 84 Prozent der Studienteilnehmer führt kein Weg an einer zunehmenden Digitalisierung aller Abläufe vorbei. 79 Prozent der Befragten sagen deshalb eine Veränderung ihres Geschäftsmodells voraus. Dementsprechend räumen 90 Prozent dem Auf- und Ausbau ihrer digitalen Fähigkeiten in den nächsten Jahren höchste und hohe Priorität ein. „Auch die Industrieversicherer haben Digitalisierung damit klar als strategische Priorität definiert“, erläutert Dietmar Kottmann, Partner bei Oliver Wyman.

Ein Ergebnis der Studie ist, dass man zwischen zwei Gruppen von Versicherern differenzieren sollte. Die eine fokussiert sich auf Lösungen zur Kundeninteraktion und intelligente Systeme für komplexe Prozesse, wohingegen die andere stärker eine Digitalisierung der Massenprozesse vorantreibt. „Welche Gruppe letztlich die Nase vorn haben wird, ist noch nicht ausgemacht“, glaubt Jens-Daniel Florian, Leiter Strategie bei Marsh. „Beide Strategien haben ihre Chancen und Gefahren.“ Je nachdem, ob das Potenzial stärker in einer Optimierung von Prozessen mittels Standards oder in individualisierten Konzepten für Kunden liege, könne die jeweilige Gruppe ihre Stärken ausspielen.

Bionische Digitalisierung als Zielbild

Aktuell steht der digitale Wandel der Industrieversicherung ganz am Anfang. So werden der Studie nach die Technologien hinter den Schlagwörtern Künstliche Intelligenz, Internet der Dinge und Blockchain von den Versicherern bisher kaum angewendet. Lediglich in Sachen Datenanalyse und Prognosemodelle gaben 18 Prozent der Befragten an, über „voll ausgebaute“ beziehungsweise im Branchenvergleich sogar „führende“ technologische Fähigkeiten zu verfügen. Angesichts der Bedeutung dieser beiden Stellschrauben für das Risikomanagement, und ebenso für das digitale Kundenerlebnismanagement, ist dieser Anteil allerdings eher bescheiden. Immerhin: Rund zwei Drittel der Versicherer gaben an, derzeit ihre Kompetenzen in allen vier Technologiefeldern zu erweitern und entsprechend zu investieren.

Dabei positioniert sich die Branche deutlich gegen eine Volldigitalisierung. Fast alle Studienteilnehmer (95 Prozent) sehen als Zielbild eine „bionische Digitalisierung“. Dabei wird der Mensch im Tagesgeschäft nicht komplett von der Technik ersetzt, sondern ergänzt seine Fähigkeiten gezielt. Aus Sicht eines Industrieversicherers gibt es unterschiedliche Möglichkeiten für die Optimierung bestehender Prozesse. Einige Anwendungsfälle existieren bereits. Sie gehen über den klassischen Gedanken des „Versicherns“ hinaus und fokussieren stärker auf die Aspekte des Risikomanagements, also des „Schützens“. „Hier eröffnet sich Anbietern die Chance, sich vom analogen Produktgeber zum digitalen Risikopartner jedes einzelnen Kunden weiterzuentwickeln“, sagt Oliver-Wyman-Manager Kottmann. Die derzeit vorzufindenden Ansätze in diese Richtung basierten oft auf Erfahrungen aus dem KMU-Segment. Letztlich würden sie aber nur bedingt helfen, da die Charakteristika des Geschäfts mit Mittel- und Großindustriekunden – Komplexität, Individualität, Internationalität – zu anderen Anforderungen und damit anderen Handlungsempfehlungen führe.

Das Potenzial ist riesig

Gegenwärtig gibt es noch zahlreiche Möglichkeiten zur Optimierung. Nach Meinung der Studienmacher könnten die Versicherer zum Beispiel durch Digitalisierung ihres Schadenmanagements erhebliche Effizienzgewinne realisieren. Der Bereich Schaden sei in der Regel der größte Kostenblock eines Versicherers. Gleichzeitig sei hier der Digitalisierungsgrad über alle Sparten hinweg äußerst gering. Eine End-to-End automatisierte Schadenbearbeitung kenne die Assekuranz bislang nur in der Autoversicherung. Dabei sei aus Kundensicht die Schadenregulierung stets der „Moment der Wahrheit“. „Versicherer, die im Schadenfall überzeugen, binden Kunden auf Dauer an sich“, weiß Thomas Olaynig, Stellvertretender Chief Market Officer bei Marsh. Stark ausbaufähig sind nach Aussage der Befragten derzeit auch Dienstleistungen zur Vorbeugung und Linderung von Schäden (Pre-Claim-Services). Bei nur 16 Prozent der Studienteilnehmer kommen dafür geeignete Werkzeuge zum Einsatz.

Solche Potenziale zu heben, ist allerdings nicht nur eine Frage der technologischen Möglichkeiten. „Versicherer und ihre Entscheidungsträger müssen auf nahezu allen Ebenen den Begriff Risiko weiterdenken“, ist Jens-Daniel Florian überzeugt. Dafür notwendig seien neue, umfassendere Lösungen, die einem Kunden zum Teil nur mit Partnern zur Verfügung gestellt werden könnten. Das wiederum verlange von etablierten Anbietern Mut, neue Wege einzuschlagen sowie Offenheit gegenüber Innovationen und Ideen. Weil es dabei auch auf Schnelligkeit ankomme, sei zudem die Aufnahmebereitschaft von Dritten von größter Bedeutung. Letztlich entstehe aber ein Netzwerk miteinander agierender Unternehmen. Im Idealfall führe so ein digitales Ökosystem zu einheitlichen Standards, ohne die eine Industrie 4.0 nicht denkbar sei. (ig)