Wie die Software den Spritzguss puscht

 Wie die Software den Spritzguss puscht
Die Hersteller von Spritzgießanlagen treiben die Idee „Smart Factory“ energisch voran. Mit so viel Schwung, dass die Vision auf der K 2016 Gestalt annimmt: Die auf der Messe gezeigten Features zeichnen in der Summe ein Bild, wie Industrie 4.0 aussehen und funktionieren wird – womöglich schon sehr bald.
Beim Spritzgießen könnte bis zu einem Drittel der Energie durch ein einziges kleines Feature eingespart werden – eines, das eindeutig Industrie 4.0 zuzuordnen ist. Professor Georg Steinbichler, Leiter F+E Technologien bei Engel Austria, präsentierte es im Vorfeld der K 2016: Die intelligente Software „iQ flow control“ erzielt diesen hohen Einspareffekt, indem sie die Pumpendrehzahl für die Kühlkreisläufe der Werkzeuge automatisch an den aktuellen Bedarf anpasst.
„Bei Messungen haben wir uns gewundert, dass bis zu 42 Prozent der Energie in der Anlage verloren geht und nicht für das Spritzgießen verbraucht wird“, erklärt Steinbichler. Die Ursache fanden die Entwicklungsingenieure, als sie diverse Werkzeug-Temperaturverläufe unter die Lupe nahmen. Dabei stellten sie fest, dass ab einer gewissen Durchflussmenge des Kühlwassers der Kühleffekt nicht mehr zunimmt, sondern eher noch sinkt. Das kann unter anderem mit den Strömungsformen zusammenhängen, die sich in den Kühlkanälen ausbilden (und die mit vertretbarem Aufwand kaum vorherzusagen sind). Da die Pumpen in der Praxis gerne mit voller Leistung gefahren werden, übersteigt der Durchfluss oft um ein Vielfaches das Optimum – und führt dann zu immensen Energieverlusten.
„Um die Verluste zu verhindern, wollten wir eine systematische Lösung finden, die jeder Anwendung gerecht wird“, sagt Steinbichler. Der neuen Software gelingt dies, indem sie empirisch ein Abbild des Prozesses erstellt und darauf basierend den optimalen Durchfluss berechnet. Bis zu 80 % der Druckverluste in den Pumpen sollen sich so reduzieren lassen, je nach Anwendung.
iQ flow control ist eines jener intelligenten Assistenzsysteme, die Spritzgießmaschinenhersteller zurzeit in steigender Zahl entwickeln. Typisch für Industrie 4.0 sind sie, weil die Anlage sich damit selbst optimiert. Ein Kennzeichen für Industrie 4.0 ist aber auch, dass dafür Daten ungehindert fließen können. So ein Tool braucht Sensorsignale aus dem Werkzeug. Und mit der Steuerung der Spritzgießmaschine (SGM) kommuniziert es über die offene Schnittstelle OPC UA. Das Beispiel zeigt, welche Potenziale in den Innovationen rund um Industrie 4.0 stecken.
Es gibt noch weitere Beispiele. KraussMaffei berichtet über eine große Nachfrage nach der 2014 eingeführten APC-Funktion (Adaptive Process Control). APC erkennt Prozessschwankungen, die zum Beispiel durch veränderliche Viskosität ausgelöst werden, und ergreift Gegenmaßnahmen. In der erweiterten Version eignet sich „APC plus“ nun auch für das Mehrkomponentenspritzgießen und die Verarbeitung mit Silikon. Zudem gibt es zusätzliche Funktionen. Solche intelligente Assistenzsysteme, neue und alte, bieten auch die Spritzgießmaschinenbauer Sumitomo Demag und Wittmann Battenfeld an. Sumitomo kann eine Reihe von Tools aufzählen, die activeMotionControl, activeQ, activeAdjust, activeColourChange etc… heißen.
Auf dem Weg zu Industrie 4.0 ist der Spritzgießmaschinenbau weit voran. Das liegt auch daran, dass die Branche seit langem komplex automatisierte Systeme realisiert. Über den VDMA haben sich die Hersteller auf die Plattform-unabhängige Schnittstelle OPC UA verständigt und arbeiten mit Hochdruck daran, sie in ihren Geräten zu implementieren. Laut VDMA vollzieht sich der Wandel zur Smart Factory auf den Ebenen Smart Machines (die sich selbst optimieren mit Tools wie oben beschrieben), Smart Production (die vernetzt ist, auch über Standorte hinweg) und Smart Services (über das Internet von außerhalb). Auf allen drei Ebenen wird der Messebesucher in Düsseldorf eine – vielleicht auch verwirrende – Fülle von Optionen zu sehen bekommen.
Daraus muss jeder für sein Unternehmen und seine Fertigung das Passende rauspicken. „Industrie 4.0 kann man nicht kaufen. Den richtigen Weg zur vierten industriellen Revolution muss jeder für sich selbst erarbeiten“, sagte Jörg Bauer vom KIT auf den Technologietagen von Arburg. Als Orientierungshilfe empfiehlt er den Leitfaden des VDMA.
Auch Dr. Gerhard Dimmler, Leiter F+E Produkte bei Engel, weist darauf hin, dass es auf die spezifischen Produktionsbedingungen des jeweiligen Kunststoffverarbeiters ankommt, auf welche Weise er von Industrie 4.0 profitieren kann: „Die Fabrik der Zukunft ist wie ein Smartphone. Zur Smart Factory wird sie erst durch die Apps.“
Und Dr. Karlheinz Bourdon, Senior Vice President Technologies von KraussMaffei, ermunterte den Spritzgießer im Interview mit dem Industrieanzeiger, Wünsche zu äußern: „Der Verarbeiter kann sehr viel tun: Er kann Forderungen stellen. An dem Feedback aus dem Markt sind wir sehr interessiert, um unsere Entwicklungen zielgerecht in die richtige Richtung zu treiben.“
Was heute schon geht, erschließt sich aus den verschiedenen Features, die die Akteure auf der Leitmesse präsentieren. Stellen wir eine Weltauswahl zusammen – nicht die der Fußballer, sondern der Industrie-4.0-orientierten Komponenten, die weltklasse sind. Sie zeigt, welche fertigungstechnischen Spielzüge bereits möglich sind oder werden. Wobei klar ist, dass über die Auswahl – wie im Fußball – gestritten werden kann und das Team in der Realität kaum so zusammenspielt.
Die erste, zunächst wichtigste Komponente ist der Computer: Bevor die Fertigung beginnt, wird der gesamte Prozess simuliert, optimiert und später auf die Maschinen übertragen. Änderungen an Werkzeugen beschränken sich dadurch auf ein Minimum. Wird später die Anlage physisch installiert, erkennen sich die Komponenten ad hoc gegenseitig. So wie bei der Wittmann Group: Der Komplettanbieter macht sein Maschinen- und Peripherieprogramm derzeit im Sinne von Plug&Produce kompatibel und hat dafür eigens einen „Wittmann 4.0 Router“ entwickelt.
Über die moderne SGM-Steuerung greift der Bediener leicht auf das Prozess-Know-how zurück, das in einer Datenbank hinterlegt ist – so wie es Kistler in seinem ComoDataCenter realisiert. Intelligente Assistenzsysteme wie iQ flow control oder APC plus sorgen dafür, dass jede Komponente in einem optimalen Betriebsbereich läuft, der Ausschuss sinkt auf nahezu Null. Alles wird digital dokumentiert. Die Systeme leiten Wartungen vorausschauend selbst ein.
Im Blick auf die Auslastung stimmen sich die Leitrechner der Standorte ab, sie fangen auch teure Energiespitzen ab – so wie es die MES e-factory von Engel vorsieht. Die Spritzgießfertigung ist total flexibel. Sie erlaubt es, Produkte individualisiert zu fertigen, wie Arburg es auf Messen vorführt. Sie kann schnell umgerüstet oder bis auf Stückzahl 1 heruntergefahren werden – im Zweifelfall übernimmt ein 3D-Drucker den Job (so wie etwa der Freeformer von Arburg). Die Teile lassen sich gezielt individualisieren durch smartes Verketten mit weiteren Fertigungsprozessen.
Jede dieser Funktionen ist heute schon verwirklicht oder angedacht. Oder die Anbieter setzen darauf, solche Pilotprojekte mit Kunden durchzuführen. Ein Blick auf die Ankündigungen zur K 2016 in Auszügen:
Im Bereich Smart Services hat Engel zum Beispiel ein Monitoring für prozesskritische Komponenten wie Kugelspindeln oder Plastifizierschnecken erarbeitet. Ab wann könnte Verschleiß die Qualität beeinträchtigen? heißt eine der typischen Fragen. „Antworten erhalten wir aus den Maschinendaten“, sagt Dr. Dimmer. „Auf diese Daten haben wir es abgesehen, nicht auf die Produktionsdaten des Kunden.“ Für eine aussagekräftige Diagnostik sollen sie auf die e-connect-Plattform von Engel fließen. Eine Zusammenarbeit auf diesem Feld erfordere Vertrauen, aber auch einen sicheren Datentransfer, betont Dimmler. Engel will auf Kunden zugehen, die dafür offen sind. KraussMaffei mit Sitz in München bereitet ähnliches mit der neuen Software DataXplorer vor und plant eine „One Service Plattform“ für die gesamte Unternehmensgruppe.
Zum Bereich Smart Production oder vernetzte Produktion: Das Thema Datensicherheit lieferte einen der Gründe dafür, dass Wittmann den Wittmann 4.0 Router entwickelte. Das Konzept: Nur Geräte, die sich mittels Sicherheitszertifikat eindeutig am Router identifizieren, erhalten Zugriff in die Arbeitszelle. Der Router ist in die Spritzgießmaschine integriert und mit der angebundenen Peripherie sowie dem Netzwerk des Anwenders verbunden. Durch ihn entfällt die manuelle Vergabe von IP-Adressen für die einzelnen Geräte in einer Arbeitszelle. Weiter ergeben sich Vorteile für die Anbindung an MES- oder ERP-Systeme mittels OPC UA, ebenso wie für den Datenaustausch mit Condition Monitoring System, Remote Control oder Web-Service 24/7 des Anlagenbauers.
Das Highlight zur K 2016 ist für Wittmann Battenfeld aber die neue SGM-Steuerung Unilog B8. Sie ist bewusst auf die Anforderungen von Industrie 4.0 zugeschnitten. Ihr großer Multitouch-Bildschirm lässt sich durch Wischen/Zoomen bedienen und bietet eine teilbare Anzeige, um SGM, Roboter und Peripherie gleichzeitig im Blick zu haben. Dr. Boy stellt ebenfalls eine neue Steuerung vor, und auch Arburg ließ durchblicken, eine modernisierte Software anstelle der bewährten Selogica präsentieren zu wollen.
Nahezu alle SGM-Anbieter zeigen vernetzte Anlagen in den Düsseldorfer Messehallen. Die vielleicht unterhaltsamste Veranschaulichung von Industrie 4.0 plant Spritzgießautomatenhersteller Dr. Boy. Eine Anlage kredenzt Bier in frisch spritzgegossenen Bechern, die den Namenszug des Messegastes tragen. In ihr kooperieren eine Boy 35 E VV und zwei Roboter: Der Chef-Kellner, ein 6-Achser, entnimmt die spritzgegossenen Gläser aus dem Werkzeug und etikettiert sie mit dem Namen, den der Besucher auf seinem Smartphone eingegeben hat. Der zweite, kollaborierende Roboter füllt sie mit dem Gerstensaft und übergibt das volle Bierglas an den durstigen Gast. Trotz allem also: Der Mensch bleibt im Mittelpunkt – prosit, gute Messe!
Autor: Olaf Stauß, Redakteur bei der Fachzeitschrift Industrieanzeiger