Keine Angst vor Industrie 4.0: Beratung schafft Klarheit

 Keine Angst vor Industrie 4.0: Beratung schafft Klarheit
Das Schlagwort Industrie 4.0 rauscht durch den virtuellen und realen Blätterwald, viele Firmen werben damit. Die Vorstellungen, was genau darunter zu verstehen ist, bleiben jedoch oftmals recht diffus – etwa bezüglich der Frage, wie sich das Kernkonzept der „digitalen Fabrik“ tatsächlich realisieren lässt. Beratungsunternehmen können bei der Umsetzung wertvolle Dienste leisten.

„Mein Vorstand will, dass ich Industrie 4.0 im Unternehmen einführen soll. Was mache ich denn jetzt?“ Solche oder ähnliche Aussagen begegnen Carsten Hagemann, geschäftsführender Gesellschafter der Beratungsfirma BeOne Hamburg, häufig. Viele (insbesondere mittelständische) Unternehmen wissen mit den Begriffen „Industrie 4.0“ oder „Digitale Fabrik“ nur wenig anzufangen. Industrie 4.0 ist eigentlich der Name eines Zukunftsprojekts der deutschen Bundesregierung und wird auch als vierte industrielle Revolution bezeichnet. Dabei geht es um Produktionsvorteile durch eine vernetzte, flexible und sich dynamisch organisierende Fertigung. Kennzeichen sind die maximale Individualisierung bzw. Hybridisierung von Produkten und die Integration von Kunden und Geschäftspartnern in die Geschäftsprozesse. Das bedeutet: Industrie 4.0 ist nicht nur die Shop-Floor-Kommunikation, also der selbständige Datenaustausch der Maschinen untereinander und ihre Selbstoptimierung, sondern auch die Kommunikation zwischen allen am Produktionsprozess beteiligten Einheiten; angefangen von der Entwicklung über Konstruktion, Planung und Logistik bis hin zu Fertigung, Montage und Service. Bei einigen Produkten zählt sogar die Demontage dazu.

Die digitale Fabrik
Ein Ziel von Industrie 4.0 ist die digitale Fabrik. Sie ist das virtuelle Abbild aller wesentlichen Strukturen, Prozesse und Ressourcen der realen Fabrik in Verbindung mit dem Produkt und umfasst ein Netzwerk von digitalen Modellen, Methoden und Werkzeugen. Doch Achtung: Die digitale Fabrik ist NICHT die Steuerung von Planungsabläufen, Betriebsmitteln, Produktion oder Hilfsprozessen (Personal, Finanzen, Beschaffung etc.).
Die Einführung der digitalen Fabrik sollte methodisch geplant werden. Dabei gilt: Nicht zu viel auf einmal wollen. Besser, so Carsten Hagemann, sei es, Stück für Stück voranzugehen und einzelne Projekte gezielt umzusetzen: „Start small“ lautet das Motto. Bei der Realisierung der Projekte bestimmen drei entscheidende Faktoren den Erfolg: die eingesetzten Methoden und Prozesse, die verwendete Technik und der umsetzende Mensch. Sein Beratungsunternehmen etwa hat eine standardisierte Vorgehensweise entwickelt, die diese drei Erfolgsfaktoren berücksichtigt und insgesamt fünf Phasen umfasst:
  • Klarheit schaffen und Ziel definieren
  • Erstellen eines Methoden-Bebauungsplans Erstellen eines Prozess-Bebauungsplans
  • Erstellen eines System-Bebauungsplans
  • Auswahl und Einführung der benötigten IT-Systeme
Zieldefinition
Am Anfang der Zielfestlegung steht die Frage, welches konkrete Ziel mit dem Projekt erreicht werden soll. Geht es vorrangig um finanzielle Aspekte wie Einsparungen oder Kapazitätserhöhungen? Sollen Fehlerquellen frühzeitig erkannt und eliminiert werden, um damit die Produktqualität zu steigern? Sollen die Produkte schneller entwickelt und zur Marktreife geführt werden? Oder soll der Service verbessert werden? Zusätzlich muss an dieser Stelle festgelegt werden, welche Teile der Wertschöpfungskette durch das Projekt betroffen sind. Hier muss von Anfang an Klarheit herrschen, denn, so Hagemann: „Die Definition der Projektziele basiert auf der Unternehmensstrategie. Aufgrund der Tragweite der Auswirkungen ist es unabdingbar, dass die Unternehmensführung hinter dieser Entscheidung steht.“
Der Methoden-Bebauungsplan
Der Methoden-Bebauungsplan (MBP) beantwortet die Frage, welche Techniken in bestimmten Bereichen Probleme methodisch lösen oder bestimmte Abläufe unterstützen können. So kann beispielsweise der Zeitaufwand für die Produktentwicklung durch die Methode der 3D-Simulation verringert werden. Bei der Anfertigung von Prototypen (Rapid Prototyping) kann der 3D-Druck den Vorgang wesentlich beschleunigen. Der Einsatz von AR-Tablets oder AR-Brillen (AR = Augmented Reality) kann den Service unterstützen. So werden dem Servicetechniker beispielsweise komplizierte Einbaureihenfolgen, alternative Ein- und Ausbaumöglichkeiten oder seltene Varianten als digitale Modelle ins Sichtfeld seiner AR-Brille eingespielt und so beim der „echten Welt“ quasi mit der Realität verschmolzen.
Entwicklung eines Prozess-Bebauungsplans
Der Prozess-Bebauungsplan (PBP) klärt, wie die Prozesse zur Umsetzung der Methoden zu definieren und einzuführen sind. Zu dieser Phase gehören neben den Prozessen, Regeln und Berechtigungen auch die Datenströme. Im Fall der 3D-Simulation in der Produktentwicklung oder des Rapid Prototyping gibt der PBP beispielsweise den Datenfluss vor („Wo kommen die Daten her und wo gehen sie hin?“), und er hält die Freigaben für 3D-Daten fest. Beim Einsatz von AR-Tablets schlüsselt der Prozess-Bebauungsplan auf, wie bzw. wem die aktuellen 3D-Daten für den Serviceeinsatz bereitgestellt werden.
System- und IT-Bebauungspläne
Im System-Bebauungsplan (SBP) wird festgelegt, welche Methoden und Prozesse – dazu zählen beispielsweise das Anforderungsmanagement, der Materialfluss und Arbeitspläne, aber auch die 3D-Konstruktionswerkzeuge sowie Product Data Management (PDM) und Product Lifecycle Management (PLM) – durch den Einsatz von IT-Systemen sinnvollerweise unterstützt werden können. Der IT-Bebauungsplan wiederum gibt vor, welches konkrete IT-System welche systemische Unterstützung bieten kann. Üblicherweise leistet hier klassische Standardsoftware wie SAP, CATIA, ProE, Delmia oder Teamcenter – um nur einige zu nennen – gute Dienste.
Praxisbeispiel: virtuelle Absicherung einer Pkw-Montage
Ein Automobilhersteller wollte seine Pkw-Montage virtuell absichern, um Kosten zu sparen; konkret sollten Fehler in der Planungsphase vermieden, Probleme im Fahrzeuganlauf frühzeitig erkannt und die Prototypenerstellung allgemein günstiger gestaltet werden. Das resultierende Projekt umfasste das Datenmanagement, die Verwendung von Simulationswerkzeugen zur Minimierung von Iterationsschleifen an physischen Prototypen bei Produkten und Betriebsmitteln, das Training und Coaching der Mitarbeiter sowie die Digitalisierung der Materialflussplanung.
Im ersten Schritt legten die Berater gemeinsam mit dem Hersteller die Methoden fest:
  • virtuelle Absicherung der Montageplanung
  • Virtualisierung des Produktionsprozesses
  • virtuelle Machbarkeitsstudien
  • Virtualisierung des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (KVP)
Im nächsten Schritt wurden im Rahmen des PBP die notwendigen Daten in einer Datenbasis zusammengeführt und die Nutzung von 3D-Daten für Workshops, die Betriebsmittelerstellung und die Optimierung der Produktionsumgebung freigegeben. Auf der Basis der Workshop-Ergebnisse erfolgte die Erstellung konkreter Arbeitspläne.
Für die optimale Auswahl der IT-Systeme klärte das Projektteam anschließend Fragen nach:
  • den erforderlichen Schnittstellen zu anderen Systemen bzw. Projekten
  • den Prozessen, die der systemischen Unterstützung bedurften
  • den benötigten Gewerken
  • dem Datenspeicherbedarf etc.
Mit dieser Vorgehensweise konnte unter anderem die Entwicklung eines Ablagewagens (B-Konsole) wesentlich beschleunigen und gleichzeitig kostengünstiger gestalten. „Bei unserem Kunden war es durchaus üblich, die Entwicklung mit einer Handzeichnung auf einem Flipchart zu beginnen und diese dann der Konstruktion zu übergeben“, erinnert sich Carsten Hagemann. Typischerweise wurde dann auf Basis der Handzeichnung ein Prototyp gebaut, der zunächst in der Praxis getestet werden musste. Aufgrund der Ergebnisse der Praxistests erfolgte dann eine Optimierung des Prototyps zur Produktionsreife – ein durchaus aufwendiger Prozess.
Deutliche Einsparungen durch Digitalisierung
In der digitalen Fabrik erstellen die Konstrukteure den Ablagewagen heute als virtuelles 3D-Modell und testen dieses in einer virtuellen Ausgabe des späteren realen Arbeitsumfelds auf seine Praxistauglichkeit. Überall dort, wo die Virtualisierung auf Unstimmigkeiten zwischen Planung und Praxis hinweist, kann im 3D-Modell nachgebessert werden – schnell und unkompliziert. Auf diese Weise reduzieren sich Planungsaufwand, Materialverluste und damit die Gesamtkosten sowie der Zeitbedarf. „Früher betrug der Arbeitsaufwand bei unserem Kunden für die Entwicklung eines Ablagewagens 21 Stunden. Dazu musste der Wagen mindestens zweimal gebaut werden, bevor er in Serie gehen konnte. Dank der Digitalisierung werden insgesamt nur noch 17 Stunden benötigt – eine Einsparung von knapp 20 Prozent – und der Materialverbrauch reduzierte sich um 50 Prozent, da nur noch ein Prototyp gefertigt wird“, erläutert Hagemann den messbaren Erfolg der Digitalisierung dieses Arbeitsfeldes.
So wie in diesem Beispiel ergeben sich durch die digitale Abbildung der realen Fabrik zahlreiche Einsparpotenziale. In der Entwicklung entfallen reale Prototypen und eine größere virtuelle Variantenvielfalt reduziert die Nachplanung für die Fertigung und Logistik. In der Materiallogistik verkürzt sich die Planungszeit durch die exakte virtuelle Darstellung; gleichzeitig steigt die Planungssicherheit signifikant, da sie unter anderem dynamische Betrachtungen und Sicherheitsuntersuchungen ermöglicht. Zudem minimieren Ergonomie- und Kollisionsbetrachtungen in der Fertigungsplanung die Nacharbeiten sowie eine Vielzahl an Risiken und Gefahren. Zeitgleich reduziert die digitale Absicherung des Betriebsmittelbaus die Planungs- und Baukosten. Im Bereich Instandhaltung trägt die Kollisionsbetrachtung zwischen Logistik und Fertigungsplanung ebenfalls zu einer höheren Planungssicherheit bei. Und im zentralen Werkzeugbau verringern sich durch eine rechtzeitige digitale Absicherung die Planungsschritte und der Materialausschuss bei der konkreten Implementierung von Werkzeugen.
Fazit
Industrie 4.0 bzw. die Einführung der digitalen Fabrik wirkt kostensenkend und effizienzsteigernd – und ist mit vorausschauender Planung weit weniger kompliziert als oftmals vermutet; vorausgesetzt natürlich, man betreibt sie projektweise und orientiert sich dabei an standardisierten Vorgehensweisen. Mit dem erfolgreichen Einsatz der digitalen Fabrik an einem verhältnismäßig kleinen Beispiel wird zudem für die Beteiligten deutlich, dass dieses Vorgehen funktioniert – somit werden Vorbehalte gegenüber den anstehenden Veränderungen in der Arbeitswelt teilweise abgebaut. (om)