Fraunhofer IPA entwickelt neue Anwendungsszenarien
Als erstes Entwicklungsfeld für Industrie 4.0 haben die IPA-Forscher die Digitalisierung der Wertschöpfung identifiziert – denn eine echtzeitnahe Datenbasis sei die Voraussetzung für weitere Optimierungsmaßnahmen, so die Grundidee. Dieses Stadium veranschaulichten die Wissenschaftler mit einer neuen Mixed-Reality-Lösung: Sämtliche Maschinen und Anlagen, die beim 2. Spitzentreffen zu sehen waren, hatten sie an die Cloud-Plattform Virtual Fort Knox (VFK) angebunden. Ebenfalls damit vernetzt: Eine HoloLens-Brille mit 3D-Raumerkennung (siehe Bild 3). Bei dieser Lösung erhält der Träger die echtzeitnahen Maschinendaten auf einem virtuellen Dashboard angezeigt: „Der digitale Schatten der Produktion wird so erlebbar gemacht“, so die Leiterin des Applikationszentrums, Petra Foith-Förster.
Cyberschrank steigert Effizienz beim Werkzeugmanagement
Als weiteren neuen Demonstrator dieser Entwicklungsstufe zeigte das Fraunhofer IPA den „Cyberschrank“: Diese Anwendung sieht zwar aus wie ein herkömmlicher Werkzeugschrank, ist aber mit der Anbindung an VFK über den Manufacturing Service Bus (MSB) mit allen anderen Maschinen vernetzt. Über Endgeräte wie Tablets, Smartphones oder Computer kann sich dadurch der Nutzer jetzt anzeigen lassen, wie die Werkzeuge und Materialien verplant sind. „Aufträge können so besser organisiert werden, und der Mitarbeiter muss nicht jedes Mal hinlaufen und nachschauen“, erklärt Foith-Förster. Es ist auch möglich, das Dashboard mit der HoloLens-Brille virtuell abzurufen.
Im zweiten Entwicklungsfeld „Das personalisierte Produkt“ demonstrierte das Fraunhofer IPA, wie Kundendaten echtzeitnah erhoben und in den Produktionsprozess integriert werden können – am Beispiel einer Brille, die im 3D-Druck hergestellt wird. Dabei erfasst die Anwendung „IRIS Scan“ das Gesicht eines „Brillenkäufers“, der über die dazugehörige App persönliche Vorlieben wie Muster, Farbe und Schriftzüge eingeben kann. Die Daten werden anschließend an den 3D-Drucker übermittelt, der die wunschgemäße Brille herstellt.
Ein Modul zur Inline-Qualitätsüberwachung prüft den Vorgang und meldet, wenn Abweichungen entstehen; im Hintergrund laufen Analytics Apps, die Rückschlüsse für die weitere Produktion ziehen. Mit Machine-Learning-Algorithmen wird beispielsweise aus den Parametern vergangener Aufträge die Produktionszeit personalisierter Produkte vorhergesagt. „Bislang haben Unternehmen in einem PPS-System feste Stammdaten für die Produktionszeit hinterlegt – bei Produkten der Stückzahl eins lässt sich das aber nicht mehr realisieren. Mit Analytics Apps erhalten wir genaue Angaben, mit denen wir die weiteren Prozesse flexibel planen und steuern können“, so Foith-Förster. Der Showcase ging auch darauf ein, welche Verfahren und Materialien sich für den 3D-Druck eignen – und für welche weiteren Produktionsszenarien das Scan-Verfahren in Frage kommt. „Anwendbar ist es zum Beispiel für die Ersatzteilherstellung oder personalisierte Werkzeuge, die sich ergonomisch an den Mitarbeiter anpassen“, führt Petra Foith-Förster aus.
Adaptiver Arbeitsplatz nun mit Bio-Licht
Das dritte Entwicklungsfeld heißt „Der Mensch als Dirigent der Produktion“ – denn Industrie-4.0-Anwendungen sollen den Mitarbeiter bestmöglich in seinem Arbeitsumfeld unterstützen. Hierzu gehört auch die ergonomische Optimierung des Arbeitsumfelds: Im Showcase zeigten die Wissenschaftler einen adaptiven Arbeitsplatz, der sich automatisch auf die Körpermaße des Mitarbeiters einstellt. Dafür wurde ein höhenverstellbarer Arbeitsbereich errichtet und mit einem Montageassistenzsystem verknüpft. Sobald sich eine Person davor stellt, scannt die integrierte 3D-Kamera die Maße und leitet diese an den MSB. Der Arbeitsplatz kann sich so selbstständig an die Person anpassen und stellt ihr die Materialien bedarfsgerecht zur Verfügung (siehe Bild 4).
Als neue Zusatzfunktion haben die IPA-Wissenschaftler das Montageassistenzsystem mit Bio- Licht ausgestattet: Je nach Tageszeit, Stressbelastung oder Montageaufgabe wird die Lichtzufuhr automatisch reguliert. „Ein hoher Rotlichtanteil aktiviert, Blaulicht beruhigt hingegen“, informiert Foith-Förster. Eine zweite Neuheit in diesem Showcase war die Intralogistik-App „Info@need“, die den Mitarbeitern abhängig von ihrem Standort in Echtzeit neue Kommissionierungsaufträge zuspielt. Möglich wird dies über iBeacon- Sendemodule, anhand derer das IT-System erkennt, wo sich die Mitarbeiter gerade aufhalten. Das Personal muss damit nicht ständig zu einem zentralen Punkt im Lager zurücklaufen und findet das Material bedarfsgerecht vor.
Optimierungswerkzeug um Maschinensteuerungs-Konnektor erweitert
An vierter Stelle auf dem Weg zur Industrie 4.0 steht das Entwicklungsfeld „Die autonome Produktion“. Ziel ist, das Fertigungssystem so intelligent zu vernetzen, dass es anhand von Produktions- und Qualitätsdaten automatisiert Muster erkennt und sich fortlaufend selbst optimiert.
Als Showcase zeigten die IPA-Wissenschaftler eine weiterentwickelte Variante ihrer „Smarten Systemoptimierung“: Das Werkzeug erkennt Fehler sowie deren Ursachen in verketten Fertigungssystemen und zeigt die Fortpflanzung der Probleme auf. Schlüsseltechnologie sind adaptierte Data-Mining-Algorithmen, die speziell zur Analyse von Stückgüter-Produktionslinien entwickelt wurden. Für die Datenakquise kommen intelligente Kameras zum Einsatz, die echtzeitnah große Mengen an Bilddaten kontinuierlich verarbeiten und nur relevante Informationen zur Auswertung weiterleiten. Ein neuer, hochperformanter Konnektor sorgt dafür, dass neben den Kameradaten zusätzlich große Datenmengen aus gängigen Maschinensteuerungen extrahiert werden können.
Erfolgreich eingesetzt wurde das System bereits bei der Schott Schweiz AG für die Optimierung eines hochautomatisierten Fertigungssystems zur Herstellung von Spritzen. „Unser Team konnte ein neues Konzept für die Produktionslinie ableiten, das die Gesamtanlageneffektivität (OEE) um ca. 10 % für bestehende Anlagen erhöht hat“, kommentiert Foith-Förster.
Geteilte Rechnerarchitektur bei FTF ermöglicht lokale Bahnplanung
Als weiteren neuen Demonstrator zeigten die IPA-Wissenschaftler, wie sich fahrerlose Transportfahrzeuge (FTF) mit verteilter Rechenleistung autonom in der Produktion bewegen. „Die Cloud wird sozusagen dezentralisiert. Neben dem zentralen Server verfügen die FTF auch über einen lokalen Rechner“, so die Expertin.
Mit dieser Lösung, auch Fog- oder Edge-Computing genannt, können die Fahrzeuge lokale Konflikte bei der Bahnplanung selbstständig lösen: Basierend auf den Umgebungsdaten berechnen sie, ob es tatsächlich zu einer Blockade kommt oder ob ein Ausweichen oder eine Geschwindigkeitsanpassung zur Laufzeit möglich ist. Weiterhin erlaubt es die geteilte Rechenarchitektur, die einzelnen Einheiten dynamisch mit Software zu bespielen, was laut Petra Foith-Förster eine mühelose Überwachung des Betriebszustandes erlaubt (siehe Bild 5).
Ramona Hönl ist am Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) für die Pressekommunikation zuständig.