„Stichproben-Messungen reichen oft nicht mehr aus“

 „Stichproben-Messungen reichen oft nicht mehr aus“
Das Wissenschaftsmagazin „Bild der Wissenschaft“ bezeichnete Prof. Gisela Lanza als die „120-Prozent-Frau“, weil sie vier Jahre lang gleichzeitig als erste Inhaberin der Shared Professorship „Global Production Engineering and Quality“ am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und für den Automobilkonzern Daimler arbeitete. Wie beurteilt eine derart aktive Expertin für weltweite Produktionssysteme die neue wichtige Rolle der Messtechnik für die Qualitätssicherung unter dem Blickwinkel von Industrie 4.0 und „Industrial Internet of Things (IIoT)“?

Das Interview führte Nikolaus Fecht, Fachjournalist aus Gelsenkirchen.

Frau Professor Lanza, wie beeinflusst Industrie 4.0 die Qualitätssicherung und die Messtechnik?
Gisela Lanza (GL): Durch die immer mehr an Bedeutung gewinnende Sensorik werden wir sicherlich sehr viel mehr Messdaten sammeln können und so komplexe Zusammenhänge besser erkennen. Ich wage sogar die Hypothese, dass wir künftig 100 % aller wichtigen Messwerte aufnehmen. 100%-Prüfung heißt: Qualitätsdaten – also alle kritischen Kennwerte – werden nicht mehr stichprobenartig, sondern hundertprozentig erfasst. Das verändert die Qualitätsregelung radikal, denn wir können nun sehr viel näher an die Toleranzgrenzen herangehen.
Wie sieht Ihrer Meinung nach die Qualitätsregelung der Zukunft aus?
GL: Ich setze auf intelligente, adaptive Qualitätsregelstrategien. Ein Beispiel hierfür kann eine Wiederbelebung von Pairing-Strategien sein, die Produktionsleute aufgrund des komplizierten mathematischen Ansatzes und des logistischen Aufwandes oft hassen. Dabei kommen Bauteile mit unterschiedlichen Qualitätsmerkmalen paarweise zum Einsatz, um Funktionen der Baugruppe mit sehr hohen Toleranzanforderungen gemeinsam zu erfüllen. Pairing-Strategien bieten sich an, wenn nicht mehr jedes produzierte Bauteil die geforderten Toleranzen erfüllen kann. Ein Beispiel dafür sind die Einspritzdüsen von Motoren, die mit einem Betriebsdruck von zukünftig bis zu 3 000 bar arbeiten müssen. Der konsequente Einsatz von Inline-Messtechnik ermöglicht dabei noch intelligentere, bauteilindividuelle Paarungen in Kombination mit der dynamischen Anpassung von Fertigungsparametern, die vielfältige neue Möglichkeiten eröffnen.
Wird das Erfassen von Daten innerhalb der Fertigungslinie also zunehmen?
GL: Ja. Es besteht ein Trend zu mehr Inline-Messtechnik oder sogar zu prozessintegrierter Messtechnik, die möglichst kurze Regelkreise erlaubt. Messungen finden nicht mehr im separaten Messraum, sondern direkt in der Produktion statt. Es steigt damit der Bedarf an modular angewandter Messtechnik in Anlagen und Produktionslinien, Standardmessgeräte sind weniger gefragt. Die Messtechnik wandelt sich zum Projektgeschäft, in dem die kundenspezifische Anwendung wettbewerbsentscheidend ist.
Stichwort Sensorintegration: Lässt sich eine Werkzeugmaschine in eine Messmaschine verwandeln?
GL: Das Ziel besteht schon seit einiger Zeit, und es ist nach wie vor eine sehr spannende Aufgabe. Aber es gibt noch viele Herausforderungen: zum Beispiel hohe Kosten und Störeinflüsse aus der Produktion wie Temperatur oder Schmutz. Außerdem erfordern typische Zerspanteile oft sehr hohe Messgenauigkeit. Gefragt ist zudem ein unabhängiger metrologischer Rahmen, der idealerweise ein Messen parallel zur Bearbeitung – also so genanntes hauptzeitparalleles Messen – ermöglicht. Das Messen mit der Werkzeugmaschine ist aber heute schon Standard bei Hochpräzisionsprodukten. Ein Beispiel dafür ist die Dieselinjektoren-Produktion bei Bosch. Gefragt: Intelligente Auswertung der riesigen Datenmengen.
Wenn die Werkzeugmaschine und die Produktion mit Hilfe von Sensorik mehr Daten erfassen kann: Was bedeutet das für die Signalverarbeitung mit Blick auf Echtzeitfähigkeit?
GL: Technisch treten an die Stelle von Einzelsensoren verteilte Sensornetzwerke, denn eine vernetzte Infrastruktur ist eine wesentliche Voraussetzung, um die Potenziale der Inline-Messung effizient zu nutzen. Gefragt ist eine intelligente, verknüpfte Auswertung der Daten. Der Fachmann spricht dabei von einer Fusion von Daten mehrerer Sensoren, die zu einem kombinierten Messergebnis führen. Um komplexe Prozesszusammenhänge zu erklären, eignen sich so genannte Data Mining-Algorithmen wie zum Beispiel neuronale Netze. Es kommt also darauf ein, die aussagekräftigen Datenkorrelationen herauszufiltern.
Welche Rolle spielen dann Qualitätsdaten, die in der Fabrik von morgen erzeugt werden? Lässt sich das entstehende Big-Data-Volumen überhaupt noch beherrschen und bewältigen?
GL: Aktuell lässt es sich noch schwer abschätzen. Grundvoraussetzung dafür ist eine einheitliche Software-Architektur. Wenn diese mit einheitlichen Datenstrukturen und Schnittstellen als Grundlage etabliert ist, setze ich aufbauend auf eine schrittweise Steigerung der Komplexität – vom Erfassen der Daten bis hin zu adaptiven, selbstlernenden Regelkreisen.
Wie lassen sich die verschiedenen Welten – also Shop Floor (Werkzeugmaschinenindustrie), Vernetzung (Web) sowie Hard- und Software (Messtechnik) – vereinen?
GL: Weil sich die klassische Automatisierungspyramide von der eigentlichen Prozess- bis hinauf zur Unternehmensebene auflöst, bedarf es eines ebenenübergreifenden Datenaustauschs. Dabei gewinnt aktuell das prozessnah operierende Manufacturing Execution System (MES) an Bedeutung. Leider scheint es die nächsten Jahre nämlich nicht möglich, ohne MES die Daten von Sensoren direkt zu nutzen und auszuwerten. Außerdem benötigen wir einheitliche Schnittstellen-Standards wie OPC/UA, ein Standard, der sich aktuell in der Automatisierungstechnik durchsetzt.
Aber der angebliche Zwang zur Echtzeit-Regelung scheint ja auch etwas zu bremsen: Muss denn alles wirklich in Echtzeit ablaufen?
GL: Nein. Dann gibt es halt mal drei Fehlteile, bis ich dann ab Nummer vier wieder i.O.-Teile (i.O.: in Ordnung) fertige.
Können Sie ein Beispiel für Best Practice nennen?
GL: Ich sehe den Bosch-Konzern als federführenden Leitanwender, der auf den flächendeckenden, vereinheitlichten Einsatz mit eigener MES- und IoT-Software setzt, die er auch als Leitanbieter vertreibt, um Prozess-, Mess- und Auftragsdaten miteinander zu verknüpfen (IoT: Internet of Things).
Sie kennen sich auch mit globalen Produktionsstrategien aus: Wo gibt es international Unterschiede bei der Qualitätssicherung?
GL: In den so genannten „emerging markets“, also den heutigen Low-Cost-Ländern, wird immer noch oft am Ende der Prozesskette klassisch geprüft. Doch die Veränderungsgeschwindigkeit ist hier enorm. Gerade in China besteht große Offenheit für Industrie 4.0. Dort herrscht die Einstellung: Wenn ich schon investiere, dann gebe ich mein Geld für die neueste Technologie aus.
Apropos China: Sie haben ja als Direktorin des „Global Advanced Manufacturing Institute GAMI“ in Suzhou auch einen Blick auf die dortige Qualitätssicherung: Was unterscheidet die Strategien der chinesischen Produktionsbetriebe von denen der europäischen Industrie?
GL: In Europa dominieren die älteren, so genannten Brownfield-Werke, die bestehende Anlagen mit Sensorik ausrüsten. In China besteht ein großer Trend zu neuen Greenfield-Werken, die ihre neuen Anlagen mit sehr viel immanenter Sensorik bestücken. Ich beobachte in China eine Bereitschaft zu sehr großen Investitionen in Industrie 4.0. Sie geben dabei – oft im Zusammenhang mit der Automatisierung – sehr viel Geld für Hardware aus. Doch das sehe ich als problematisch an, denn Industrie 4.0 und die dazu nötige Systemkompetenz kann man nicht kaufen. Was nützt mir nämlich die beste Messmaschine, wenn ich das System nicht verstehe? Für China spricht, dass die dortigen, deutlich jüngeren Belegschaften sehr viel offener und aufgeschlossener für IT-Anwendungen sind. Es fehlt aber oft noch ein Grundverständnis zur Wirkungsweise von Regelkreisen.
Im Herbst 2017 findet die EMO in Hannover statt: Welche Rolle spielt diese Messe für Sie und Ihre Mitarbeiter?
GL: Als Produktionstechnikerin gehe ich sowieso auf die EMO Hannover 2017. Aber weil die prozess- und maschinenintegrierte Messtechnik zunimmt und Produktions- und Messtechnik zusammenwachsen, wird sie auch für die reinen Messtechniker immer relevanter. Als gut empfand ich in diesem Zusammenhang übrigens auch die „Quality Area“ auf der METAV 2016. Es ist der richtige Ansatz getreu dem Motto: „Raus aus dem Prüfraum, rein in die Produktion“.